WEM DIE STUNDE SCHLÄGT

Wie übersteht man unbeschadet eine Schlägerei? Playboy Redakteur Sebastian R. Tromm war zu Besuch in unserer Münchner EWTO Akademie. Hier sein Erfahrungsbericht mit Sifu Andreas Ertl:

Vier schlecht verheilte Brüche: Meine krumme Nase habe ich meinem dämlichen Mundwerk zu verdanken. Sobald mir jemand einen Spruch reindrückt, macht es, was es will. Und mein Gesicht kassiert das Feedback. So begann ich vor Jahren mit dem Boxtraining, um Pöblern etwas entgegenzusetzen. Das machte mich fitter. In brenzligen Situationen half mir Muskelkraft jedoch wenig weiter.

Deswegen stehe ich jetzt Andreas’ WingTsun gegenüber. Der Leiter der Wing- Tsun-Akademie und BlitzDefence-Trainer in München grinst. Schmale Figur. Ruhige Stimme. Er sagt: „Du spielst den Angreifer.“ Abgemacht! Stress machen – darin war ich in der Schule immer der Klassenprimus. Ich hebe die Fäuste. Linke vorn, Rechte eine Daumenlänge von meiner Nase, Ertl eine Armlänge weit von mir entfernt. Füße in Auslage. Schlagbereit. Boxerpose. Mein erster Fehler. Ich blinzele. Zweiter Fehler. Plötzlich spüre ich Ertls Unterarm an meiner Halsschlagader. Plötzlich hängt meine Deckung auf Stand-by. Plötzlich steht sein Fuß auf meinem. Ich versuche, mit meinem Ellbogen zu Ertls Gesicht durchzukommen. Doch je mehr ich mich bewege, desto mehr verliere ich das Gleichgewicht. Wir stehen nun dichter als ein verliebtes Pärchen beim Tango. Wäre das Realität – ich würde längst ein Nickerchen auf dem Asphalt halten. Der Typ ist einfach zu schnell. Und trifft die wirklich empfindlichen Stellen. Deswegen heißt das also BlitzDefence.

Alles, was ich über Kampfsport gelernt habe, kann ich hier an der Garderobe abgeben, denn BlitzDefence ist kein Kampfsport. Es ist ein Selbstverteidigungssystem. Klingt nach Wortklauberei, ist aber ein Unterschied, der einem viele Schmerzen ersparen kann: Kampfsport, wie Boxen oder Judo, wird in Wettkämpfen ausgetragen. Es gibt Gewichtsklassen, Schutzkleidung, Ringrichter, einen Arzt, der im Notfall das Handtuch wirft, eine feste Rundenzahl. Zwei Kontrahenten kämpfen gegeneinander, kein Rudel gegen ein Fluchttier. Wenn jemand zusammenbricht, bewusstlos wird, ist der Kampf vorbei.

Die Techniken werden an ein striktes Reglement angepasst: Tiefschläge, Waffen, in die Augen stechen, in die Ohren beißen – alles tabu. Sogar für Mike Tyson. Tabus, Regeln und Fairness gibt es auf der Straße nicht. Dort ist das genaue Gegenteil gefragt: Stress machen diejenigen, die sich ihrem potenziellen Opfer überlegen fühlen. Wer Streit sucht, ist meistens in der Überzahl, Dauergast im Fitness-Studio. Oder ein aufgeblasener Idiot, der lange keinen weggesteckt hat und seine Wut auf andere projiziert. Auf Männer, die mit Frauen ausgehen. Auf Männer, die schwächer wirken als andere. Auf Männer, die auf ihre Schuhspitzen starren, statt entschieden „Bitte lassen Sie mich in Ruhe“ zu sagen. Wer sich wie ein Opfer verhält, wird leichter zum Opfer gemacht. Ich kenne die eine Seite so gut wie die andere. Kampfsysteme stellen sich darauf ein. Sie werben mit „realitätsnahen Szenarien“. Kein Training am Boxsack, sondern immer mit einem echten Partner. Typische Übung: Einer ist Aggressor, einer der Verteidiger. Beim BlitzDefence wird beim Training auch immer die Beobachtungsgabe geschult: Von wem geht eine Gefahr aus, wer versucht, meinen Blick einzufangen, wie gehe ich Provokationen aus dem Weg, ohne schwach zu wirken? Wie fühlt es sich an, angebrüllt zu werden?

Wer einmal mit grundloser Gewalt in Berührung gekommen ist, kennt die natürliche Reaktion: Schockstarre, Lähmung, unkontrollierte, unbeholfene Abwehr. Selbst der Fluchtreflex setzt in so einer Situation aus. In einer kultivierten Gesellschaft sind wir nicht mehr daran gewöhnt, Konflikte mit lautem Geschrei und Drohgebärden zu lösen (außer wenn man in Bremen-Ost aufgewachsen ist wie ich; da werden einem Wutanfälle als „überschäumendes Temperament“ ausgelegt). Durch Training wie dieses sensibilisiert man seine Sinne. Die Panik wird kanalisiert, statt den Körper zu fluten. Man muss lernen, seinen Instinkten zu vertrauen und sie für sich zu nutzen. Und das beginnt lange, bevor man kämpfen muss. Je öfter man im geschützten Rahmen Gefahrensituationen durchspielt, desto souveräner tritt man in freier Wildbahn auf. Egal, ob man Karate-Großmeister, Türsteher oder Krav-Maga-Instruktoren befragt, alle geben dieselbe Antwort: Der beste Kampf ist der, der nicht stattfindet. Aber: schon einmal versucht, einen Besoffenen mit netten Worten zur Räson zu bringen? Eben. Für diese Fälle gibt es die Kampfsysteme.

Erster Schritt im BlitzDefence: offene Hände. Immer an die Zuschauer denken. Eine der wenigen Parallelen zwischen Kampfsport und Kampfsystem: das Publikum. Auf der Straße „Zeugen“ genannt. Andreas Ertl sagt, wer die Fäuste ballt und sich so hinstellt wie ich, wird vor Gericht immer als Täter identifiziert. Auch wenn er in Notwehr handelt. Außerdem platzen beim Schlag mit der Faust die Knöchel auf, und man kann sich durch den Blutaustausch mit Krankheiten anstecken. Neue Runde. Ertl steht mit offenen, erhobenen Händen vor mir. Eine abwehrende, beruhigende Haltung. Scheinbar.

Denn wenn ich mich bewege, bewegt sich auch Ertl. Wenn ich eine Lücke in seiner Deckung suche, verändert er seine Position. Er redet auf mich ein: „Hey, ich kenne Sie gar nicht, lassen Sie mich einfach zufrieden.“ Dann landet im Bruchteil einer Sekunde sein Handballen plötzlich seitlich auf meinem Kiefer. Zum Glück bremst er seinen Schlag ab. Fuck. Während ich ungläubig lache, kommentiert Ertl ruhig: „Der Gegner entscheidet, was wir tun. Wir reagieren auf seine Haltung und passen unseren Angriff an.“ Wenn wir sehen, dass sich der Kampf nicht mehr vermeiden lässt, nutzen wir das Überraschungsmoment. „Wir wollen uns nicht wild prügeln. Wir wollen kein Aufsehen erregen. Es muss schnell vorbei sein.“ „Sei Wasser, mein Freund. Wenn der Gegner hart ist, sei weich.“ Ich habe dieses Bruce-Lee-Zitat nie verstanden. Der Kampfsport-Star machte das WingTsun durch Filme populär, in denen er mit seinen Schlagkombinationen selbst Chuck Norris zum Boxsack degradierte. Gerade deswegen habe ich immer gezweifelt, dass man in der Realität solche Kombinationen anbringen kann. Ich habe Bruce Lee in seinem gelben Overall für eine Art Kampfsport-Hütchenspieler gehalten: so schnell, dass man nicht mitbekommt, wie er trickst. Jetzt erfahre ich am eigenen Körper, dass es machbar ist. Die Kombinationen. Nicht die Overalls. Ich schlage, Ertl fließt. Er gewinnt. BlitzDefence baut auf dem WingTsun auf. Diese Kampfkunst wurde vor 250 Jahren in China von einer Frau entwickelt, die sich gegen Männer zur Wehr setzen musste.

Bei BlitzDefence und WingTsun spielt deshalb Kraft keine Rolle. Man bricht nicht mit der Faust durch die Deckung des Gegners, um möglichst schwere Treffer anzubringen. Man ringt nicht mit ihm, klopft ihn nicht mürbe. Stattdessen zielt man auf Knotenpunkte des Nervensystems oder die Halsschlagader. Wenn man die trifft, sackt der Blutdruck ab, das Gehirn gerät ins Schleudern, oder der Schmerz übermannt einen. Bedeutet in allen Fällen: k. o. Jeder Mensch hat dieseSchwachstellen, und jeder kann lernen, sie zu nutzen – egal, ob 140-Kilo-Brecher oder Ballerina.

Der Erfinder des BlitzDefence, Keith Kernspecht, passte die Techniken des WingTsun an die westliche Welt an und machte sie unter neuem Namen alltagstauglich. Auch in juristischer Hinsicht. Kettenfaustschläge wie im traditionellen Kampfsport sind auf der Straße keine kluge Idee. Jeder einzelne Jab wird mit hohen Tagessätzen und Haftstrafen geahndet. Kernspecht hat das Training vereinfacht, um auch Leuten ohne Kampferfahrung und mit wenig Zeit eine effiziente Art der Selbstverteidigung zu bieten. Und beim Playboy-Suppenkasper schlagen seine Methoden an. Ich habe Blut geleckt – und zwar in jeder Hinsicht . . .

Für die nächste unangenehme Situation fühle ich mich nach einer Stunde Training mit Ertl schon besser gewappnet. Denn ich lerne noch zwei weitere Lektionen: Wenn mir nach einem kontrollierten Schubser auf die Halsschlagader schon Sterne vor den Augen tanzen – was richte ich mit einer ungebremsten Geraden gegen den Schädel bei jemandem an? Statt lebenslanger Konsequenzen trage ich lieber ein paar Stunden mein verletztes Ehrgefühl spazieren und belasse es beim Wortgefecht. Und: Ich gehe Streit ab jetzt immer aus dem Weg. Selbst mit einem flaumbärtigen Milchbubi – vielleicht ist der Typ Ertls Schüler. (Copyright


HOW TO BE A PLAYBOY
Hardcover, 176 Seiten
Erschienen: November 2017
Gewicht: 673 g
ISBN: 978-3-7423-0341-7

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© des Titels »How to be a Playboy« (ISBN 978-3-7423-0341-7) 2018 by riva Verlag,
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RIVA-How to be a Playboy
Selbstverteidigung
Andreas Ertl